„Was hat Berlin je für Ostfriesland getan?“

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Unter der Überschrift „Was hat Berlin je für Ostfriesland getan?“ fuhr eine Gruppe von ehrenamtlich engagierten Auricher*innen nach Berlin. Die Idee kam von Politischen Bildner Timo Schneider, der in einem Antrag an die „Partnerschaft für Demokratie“ wie folgt um finanzielle Unterstützung geworben hatte: „Die Haupstadt und ihre Institutionen sind weit entfernt vom Alltag im strukturschwachen Ostfriesland. Die aus dieser Distanz herrührenden Vorurteile sollen […] korrigiert werden. Eine Seminargruppe aus ehrenamtlich Engagierten besucht den Abgeordneten aus dem Landkreis Aurich im Berliner Bundestag: Johann Sathoff (MdB, SPD). Die Reise wird in Diskussiongruppen vorbereitet, in denen lokale Fragestellungen gebündelt werden. Im Nachgang sollen die Erfahrungen in der Haupstadt in die Sozialräume weitertransportiert werden, in denen Ehrenamt vor Ort stattfindet. Auf diese Weise wird Parteien- und Politikverdrossenheit durch glaubwürdige Multiplikatoren entgegengewirkt und zur Vereidigung demokratischer Werte und Institutionen beigetragen. […] Das dreitägige Seminar unter dem provokanten Titel „Was hat Berlin je für Ostfreisland getand?“ begegnet dem Phänomenkomples (des Gefühls des Abgehängtseins im ländlichen Raum, M.G.) mit einem analytischen Ansatz, dessen Ergebnisse in die lokale Zivilgesellscahft zurücktransportiert wird.“

Die Auricher Gruppe in Berlin.
Die Auricher Gruppe in Berlin.

Lassen wir im Folgenden Timo Schneider erneut zu Wort kommen. Diesmal zitieren wir aus seinem Projektbericht:

Das Verhältnis zwischen Peripherie und Zentrum, Provinz und Hauptstadt war schon immer ein schwieriges. Für zentralistische Staaten wie Frankreich gilt das ganz besonders. Aber auch im föderalen Deutschland stellt sich die Frage, was die Politik, die in der fernen Hauptstadt gemacht wird, mit dem Alltag im Landkreis Aurich zu tun hat.

Der ländliche Raum ist ein politisches Sorgenkind und Ostfriesland ein gutes Beispiel dafür: Zwar ist die Region attraktiv für Tourist*innen und Menschen, die einen ruhigen Lebensabend auf dem Land genießen wollen. Doch zugleich zeichnet sich der Landkreis Aurich durch Strukturschwäche, weite Wege, geringe Bildungs- und Kulturangebote, infrastrukturelle Unterversorgung („Landarztmangel“), daraus resultierende Abwanderung und „Dörfersterben“ sowie eine räumliche und „gefühlte“ Distanz zur „großen Politik“ im fernen Berlin aus.

Die 2014 erstmals erhobene Situationsanalyse der Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Aurich weist in ihrer jährlicher Fortsetzung auf diese Problematik hin. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und die Wüstenrot Stiftung zählten in ihrem jüngsten „Teilhabeatlas“ (hier als PDF-Datei) den Landkreis Aurich unter die abgehängten Regionen.

Abgehängtsein als Problem

Zahlreiche Analysen warnen vor den Folgen eines solchen Gefühls des Abgehängtseins, wie es in den ländlichen Räumen vor allem Ostdeutschlands ausgiebig dokumentiert und untersucht wurde und wird. Genannt sei exemplarisch die Studie von Larissa Deppisch: „Wo sich Menschen auf dem Land abgehängt fühlen, hat der Populismus freie Bahn“ – eine Analyse des populär-medialen Diskurses zu der Bedeutung von Infrastrukturverfall, Abstiegsangst und rechten (extremistischen) Werten für den Zuspruch zum Rechtspopulismus, Thünen Working Paper, No. 119, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Braunschweig (hier als PDF-Datei). In ihr werden infrastrukturelle, wirtschaftliche und kulturelle Formen des „Abgehängtseins“ unterschieden, das „mit einem Gefühlskonglomerat aus Ängsten, Unzufriedenheit und Ohnmacht als auch mit einer Kritik am demokratischen System selbst einher“ geht.

Gefühle des „Abgehängtseins“ können zwar nicht monokausal für den Anstieg an rechtspopulistischen, demokratie- und menschenfeindlichen Haltungen verantwortlich gemacht werden. Insbesondere mit Blick auf parteipolitisch Aktive und ihre Netzwerke, die bis in den organisierten Rechtsextremismus reichen, wäre es weit hergeholt, hier eine Motivation durch Gefühle des „Abgehängtseins“ zu vermuten. Auch geht das Wählerpotential populistischer Parteien, deren Narrative zwar erkennbar an Gefühle des „Abgehängtseins“ anschließen, weit über eine bloße Protestwählerschaft hinaus.

Ehrenamtliche für Diskussionen stärken

Dennoch veranstaltete die KVHS Norden Mitte Oktober ein dreitägiges Seminar, dass sich unter dem provokanten Titel „Was hat Berlin je für Ostfriesland getan?“ auf diesen einen Ausschnitt des Phänomenbereichs konzentrierte. Es begegnet ihm mit einem analytischen Ansatz, dessen Ergebnisse in die lokale Ziviligesellschaft zurücktransportiert werden: Zunächst wurden demokratieskeptische Vorurteile und (enttäuschte oder übertriebene?) Erwartungen aus dem ländlichen Raum gesammelt und mit der Realität des „politischen Berlins“ konfrontiert. Hierzu besuchte die 20-köpfige Gruppe unter der Leitung des Bonner Politologen Siebo Janssen die Stätten historischer und gegenwärtiger Demokratie in der Hauptstadt. Im Anschluss an eine Plenarsitzung im Bundestag war Gelegenheit, die bisherigen Eindrücke und Diskussionsergebnisse mit dem Bundestagsabgeordneten Johann Saathoff (SPD) zu besprechen.

Die Gruppe bestand vorwiegend aus ehrenamtlich Aktiven, die nach der intensiven dreitägigen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Provinz und Hauptstadt, Peripherie und Zentrum in ihrem Umfeld fundierter auf Gefühle des Abgehängtseins und der Demokratieverdrossenheit reagieren können.