Lesung und Diskussion „Geschichten annehmen“

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In einem Nachtrag zur Veranstaltungsreihe „Flucht, Aufnahme und Erinnerung“ blickte Michael Helming am 21. November in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld auf die Bessarabien-Deutschen. Lennart Bohne, Leiter der Dokumentationsstätte, sprach in seinen einleitenden Worten von einem Perspektivwechsel hin zu einem Ort, auf den sich die Erinnerungen Vertriebener richten.

Michael Helming widmet sich als Reiseschriftsteller vor allem in Vergessenheit geratenen deutschsprachigen Autor:innen Osteuropas, über die er in den vergangenen Jahren diverse Bücher und Aufsätze verfasst hat. Bei einer Ukraine-Reise im Sommer 2019 war Helming auf literarischer Fahrt in Bessarabien unterwegs.

In seiner Lesung mit anschließender Diskussion schilderte er eindrücklich die Verwunderung, die Ortsnamen wie „Eigenfeld“, „Eigenheim“ oder „Gnadenfeld“ keine hundert Kilometer südlich von Odessa auslösen. Am schwarzen Meer begab er sich auf Spurensuche nach den deutschen Siedlern in Bessarabien: eine kurze Geschichte, deren Spuren heute fast alle verwischt sind.

Der Reiseschriftsteller Michael Helming bei seiner Lesung am 21.11.2023 in der Gnadenkirche Tidofeld.

Um 1813 kamen die ersten deutschen Siedler in die Region, vom Zar mit Privilegien und Land gelockt: Sie lebten als selbstständige Bauern auf eigenem Land und durften sich selbst verwalten. Etwa 9.000 Deutsche kamen und bis ins 20. Jahrhundert verzehnfachte sich die Zahl der Bessarabien-Deutschen. Allerdings wurden ihre Vorrechte („Kolonistenstatus“) bereits 1870 wieder aufgehoben, woraufhin viele nach Amerika auswanderten. Als Folge des Hitler-Stalin-Paktes wurden die meisten verbliebenen Siedler 1940 ins besetzte Polen umgesiedelt, womit die Geschichte der deutschen Siedler in Bessarabien endete.

In die Anfangszeit der deutschen Besiedlung fiel auch der Aufenthalt Puschkins in der Region, der für die zaristische Verwaltung „Neurusslands“ Reisen in der Region unternahm, wovon noch heute die zahlreichen Puschkin-Häuser Zeugnis ablegen. 1823 begann Puschkin die Arbeit an seinem Versroman „Eugen Onegin“, der auch Eindrücke aus Bessarabien und Odessa enthält.

In der Anschlussdiskussion ging es sowohl um Puschkins schriftstellerisches Erbe, auf das Russland ebenso wie die Ukraine Anspruch erheben, als auch um das Menschheitsthema Migration am Beispiel der Bessarabien-Deutschen. Einige ihrer Nachfahren saßen auch im Publikum und trugen mit persönlichen Erinnerungen zu einem eindrucksvollen Abend in der Gnadenkirche Tidofeld bei.